Prozess in Innsbruck: Vater im Fall Leon freigesprochen (2024)

Kurz nach 17 Uhr an diesem Donnerstag im Landesgericht Innsbruck. Auf dem Flur vor dem Schwurgerichtsaal macht das Urteil vorab die Runde: Freispruch. Sandra A., die Frau des Angeklagten, weint vor Freude und Erleichterung. Im Schwurgerichtssaal sagt der Obmann der acht Geschworenen, alle seien für Freispruch gewesen. Viele im Publikum klatschen, sodass der Richter Andreas Fleckl sagen muss, „Bekundungen der Freude oder Trauer“ seien zu unterlassen. Dann erklärt er, Florian A. könne sofort nach Hause gehen.

Am Donnerstagmorgen um kurz vor neun Uhr ist der Himmel in Innsbruck blau, es gibt ein paar Schleierwolken unterhalb der Berggipfel. In der Stadt fahren Busse mit Destinationen, die nach Urlaub klingen: Wattens und Grinzens. Ein Idyll, eigentlich. Doch im Landesgericht geht es darum, ob Florian A. schuldig gesprochen wird. Ein Schild hängt an den Glasfenstern im Foyer: „Platzkarten für den Mordfall Leon A. vergriffen“. Die Mutter und der Stiefvater des Angeklagten stehen vor der Sperre, durch die Prozess-Besucher hineingelassen werden. „Vertrauensperson“, sagt der Stiefvater, er und die Mutter werden durchgewunken.

Verhandelt wird der Fall von Leon, ein geistig beeinträchtigter Junge. In der Nacht zum 28. August 2022 ertrank der damals Sechsjährige in der Kitzbüheler Ache in St. Johann inTirol. Sein Vater Florian A. sagt, er sei niedergeschlagen worden und bewusstlos gewesen. Sein Sohn sei aus dem Kinderwagen gestiegen und in den Fluss gefallen. Die Staatsanwaltschaft glaubt indes, Florian A. habe den Überfall vorgetäuscht und seinen Sohn in die Ache geworfen, weil er mit dem Jungen überfordert gewesen sei.

Die Sachverständige hat 111 DNA-Spuren untersucht

Drinnen, im Schwurgerichtssaal, wird zunächst eine Sachverständige der Ermittlungsbehörden befragt. Sie habe 111 DNA-Spuren untersucht, sagt sie. Einige seien unbekannt, etwa am Overall von Leon A., am Flaschenhals der mutmaßlichen Tatwaffe, einer Sektflasche, an Einweghandschuhen oder an Zigarettenkippen in einem Mülleimer in der Nähe des Tatorts. Die Sachverständige konnte nicht alle Scherben der Sektflasche untersuchen, weil die Ermittler weniger als 50 Prozent sichergestellt hatten. Einige hatte die Straßenreinigung in St. Johann zwei Tage nach der Tat beseitigt. Für die Verteidiger ist das eine Panne, also ein Angriffspunkt.

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:Eine Nacht, zwei Versionen

In Innsbruck hat der Prozess gegen einen Vater begonnen, der seinen Sohn ertränkt haben soll. Das Kind hatte einen seltenen Gendefekt. War der Vater damit überfordert? Oder fiel der Sechsjährige doch von selbst in den Fluss?

Einer von mehreren. Die Anwälte attackierten die Ermittler an den drei Verhandlungstagen immer wieder – sie nannten die Beamten „voreingenommen“ und warfen ihnen weitere Versäumnisse vor. So zeigten Video-Aufnahmen eines Dro­geriemarktes in St. Johann einen Mann, der Florian A. in der Tatnacht folgte. Die Chefin des Marktes hatte die Ermittler darauf aufmerksam gemacht, dass die Aufnahmen nach sieben Tagen automatisch gelöscht würden – doch erst am achten Tag kam ein Polizist, um sie abzuholen. Chefinspektor Karl-Heinz Huber, der die Ermittlungen leitete, sagte dazu am zweiten Verhandlungstag: „Da ist ein Fehler passiert.“

Oder die Sache mit dem Telefonat und der Zigarettenkippe. In der Nacht zum 28. August, gegen vier Uhr, telefonierten zwei Menschen in der Nähe des Tatorts miteinander. Könnten das Zeugen gewesen sein? Oder gar die Täter? Die Polizei ermittelte nicht. Und in einem Mülleimer an der Kitzbüheler Ache wurde eine Zigarettenkippe mit der DNA eines registrierten Straftäters sichergestellt. Er wurde als Zeuge vernommen, weitere Ermittlungen wurden nicht aufgenommen.

Richter Andreas Fleckl sagt freilich auch an diesem Donnerstag, dass „Ermittlungsfehler nicht helfen, die Schuldfrage zu lösen“. Auch die Motivfrage sei dafür nicht wichtig. Die Verteidigung hatte stets klarzumachen versucht, dass Florian A. kein Motiv habe, schließlich habe sich Leon trotz Syngap-Syndrom gut entwickelt und die Betreuungssituation sich im Sommer 2022 verbessert.

Staatsanwalt Joachim Wüstner sagt in seinem Schlussplädoyer, gegen Florian A. sprächen unter anderem Video-Aufnahmen, die zeigten, dass sich die Sektflasche, mit der niedergeschlagen wurde (oder, wie die Anklage glaubt, sich selbst schlug), bereits vor der Tat im Kinderwagen befunden habe. Der Kinderwagen wurde damals leer neben A. aufgefunden. Gegen ihn spricht die – angebliche – Bewusstlosigkeit. Hatte er sie nur vorgetäuscht, nachdem er sich die Flasche auf den Kopf geschlagen hatte? Wüstner hält es für „vollkommen unglaubwürdig“ und „medizinisch nicht möglich“, dass Florian A. über eine Stunde lang ohnmächtig gewesen sein soll. „Nichts, nichts deutet darauf hin, dass er so lange bewusstlos war oder überhaupt bewusstlos war“, sagt er. Zu leicht waren die Verletzungen am Kopf von Florian A. Der Gerichtsmediziner habe sie „Bagatellverletzungen“ genannt.

Einmal macht der Angeklagte sogar einen Scherz – allerdings einen bitteren

Die ganze Geschichte, sagt er zunächst konziliant, sei „beklemmend und furchtbar traurig. Auch Florian A. ist ein Opfer.“ Dann aber meint er auch, dass die Geschworenen „nüchtern und sachlich“ urteilen müssten, schließlich könnten sich „draußen“ andere Angehörige von geistig beeinträchtigten Menschen ein Beispiel nehmen. „Wenn Herr A. mit seiner schlechten Lüge durchkommt, treibt vielleicht bald ein anderer toter Mensch im Fluss.“ Als er das sagt, gibt es ein empörtes Raunen im Publikum.

Verteidiger Albert Heiss versucht die Sache mit der Bewusstlosigkeit in seinem Plädoyer neu einzuordnen. Es habe ja immer geheißen, Florian A. sei mehr als eine Stunde bewusstlos gewesen – basierend auf der Aussage von Chefinspektor Huber, der Überfall (oder der Schlag von A. selbst) müsse gegen vier Uhr stattgefunden haben und Florian A. sei um 5.17 Uhr aufgewacht, als die Sanitäter ihn berührten. „In der Anklageschrift heißt es aber, die Tat sei zwischen vier und fünf Uhr begangen worden“, sagt Heiss, „wenn es um kurz vor fünf war, dann war der Angeklagte bis zum Eintreffen der Sanitäter höchstens 20 Minuten bewusstlos, also gar nicht so lange.“

Zudem sei für die Ohnmacht nicht nur der Schlag auf den Kopf verantwortlich, sondern auch der Kontakt mit dem Boden, als Florian A. hinfiel. „Da kann sich die Erstverletzung verdoppelt haben.“ In der Klinik sei ja auch eine Gehirnerschütterung festgestellt worden. Heiss appellierte an die Geschworenen, dass es bei Zweifeln in der Regel Freispruch gebe: „Indizien, wie es sie in diesem Verfahren gibt, sind für ein Strafverfahren zu wenig, es braucht harte Beweise.“

Der Angeklagte Florian A., 39, war an den drei Verhandlungstagen höflich und rhetorisch gewandt. Einmal an diesem Donnerstag macht er sogar einen Scherz, allerdings einen bitteren. Als ein Bild von ihm aus dem Jahr 2022 gezeigt wird, auf dem er dunkle Haare hat, fragt ihn der Richter Andreas Fleckl: „Da sind schon Sie, oder?“ A. antwortet: „Ja, ich habe nur vielleicht in den letzten zwei Jahren graue Haare bekommen.“ Florian A. hatte sich immer im Griff, bloß manchmal schüttelte er den Kopf, als die Polizisten – die als Zeugen geladen waren – oder der Staatsanwalt sprachen. So, als sei er nicht einverstanden mit dem Gesagten.

Einigen Polizisten warf er vor, ihn schlecht behandelt zu haben, etwa als er am 27. Februar 2023 in Erpfendorf in der Nähe von St. Johann festgenommen worden war. Sie hätten ihn erst vier Stunden später, in Innsbruck, mit seinem Anwalt telefonieren lassen, und ein Beamter habe zu ihm gesagt, er habe jetzt nur noch „zwei Möglichkeiten: Geständnis, Gefängnis und Neubeginn – oder Selbstmord“.

Bei seinen Schlussworten am Donnerstagnachmittag sagt Florian A. zu den Geschworenen: „In 27 Tagen ist der zweite Todestag von Leon – ich bitte Sie inständig, dass ich dann bei meiner Familie sein kann.“ Und egal, wie sie entscheiden würden, die Geschichte werde „kein Happy End für uns haben“, denn sein Sohn sei tot.

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