Nellie Bly: Die Reporterin, die Psychiatrien zu besseren Orten machte - WELT (2024)

Anzeige

Kaum eine Branche zieht Egos in Wolkenkratzer-Größe so sehr an wie der Journalismus. Dies zu erklären, fällt leicht: Es gehört nicht viel dazu, aus gesammeltem Halbwissen etwas zusammenzurühren, was Hunderttausende irgendwie überzeugt - und dabei keinen Kick von der Stärke reinen Heroins zu verspüren, ist nur wenigen Seelen gegeben. Zu den absoluten Stars des Geschäfts zählen traditionell jene Kollegen, die sich um das Fach Investigation kümmern, die also – wie man so sagt – den Mächtigen auf die Finger sehen und notfalls sogar klopfen.

Anzeige

Zumeist zieht diese Art von Arbeit Männer an. Nicht alle von ihnen folgen der Devise des ehemaligen „Washington Post“-Chefredakteurs Ben Bradlee, ein Reporter müsse möglichst das ganze Bild erfassen, bevor ein Buchstabe erscheint (unter Bradlee trug die „Post“ dazu bei, Watergate aufzudecken und Richard Nixon als US-Präsidenten zu stürzen, aber das nur ganz nebenbei). Frauen dagegen finden sich in diesen Sphären eher selten. Vielleicht haben sie weniger Spaß daran, menschliches Versagen in die Öffentlichkeit zu zerren.

Und trotzdem gibt es sie – und wer über sie spricht, wird schnell auf den Namen Nellie Bly (1864–1922) stoßen. Sie war die Erste, die Pionierin, nicht nur in Sachen Investigation, sondern auch darin, dass sie den ganzen Planeten sehen und Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ bei einem Trip möglichst unterbieten wollte. Doch als sie sich am 14. November 1889 auf den Weg machte, lag ihre wichtigste Arbeit streng genommen schon hinter ihr. Als Reporterin hatte sie über die Zustände in einer New Yorker Frauen-Psychiatrie berichtet und damit ein völlig neues Bild ärztlicher Versorgung gezeichnet.

Anzeige

Elizabeth Jane Cochran kam am 5. Mai 1864 als drittes von fünf Kindern des Ehepaars Michael und Mary Jane Cochran zur Welt. Der Vater starb, als Elizabeth sechs Jahre alt war, ihre Mutter heiratete einen Alkoholiker, die Familie verarmte. Die Ehe wurde nach fünf Jahren geschieden, und Elizabeth besuchte ein Jahr ein Internat für angehende Lehrerinnen. Zu dieser Zeit fügte sie ihrem Nachnamen ein e an.

Ihre Karriere im Journalismus begann mit einem Leserbrief – er zürnte einer frauenfeindlichen Kolumne im „Pittsburgh Dispatch“. Der Chef der Zeitung war davon so angetan, dass er der Verfasserin einen Job anbot. Diese firmierte bald unter dem Pseudonym Nellie Bly. Nach einigen Reportagen mit investigativen Zügen versetzte man sie sehr zu ihrem Missfallen in die Redaktion mit den „Frauenthemen“. Dort hatten Frauen sich seinerzeit umzutun – und inhaltlich lief das auf Klatsch, Tratsch und vielleicht noch ein bisschen Haushalt und Mode hinaus. Für jemanden vom Format Blys war das natürlich viel zu wenig.

Also ging sie 1887 nach New York, was sich heute sehr einfach hinschreibt, damals aber gerade für eine Frau ohne Familie ein Risiko war, wie man es sich wohl kaum mehr vorstellen kann. Sie ergatterte einen Posten bei Joseph Pulitzers „New York World“. Die Redaktion beorderte sie zu besagter Psychiatrie in Blackwell’s Island (heute Roosevelt Island) zwischen den Stadtteilen Manhattan und Queens. Zunächst trainierte sie in ihrem Zimmer, verrücktzuspielen, um als Insassin akzeptiert zu werden – man wünscht sich diese Sorgfalt bei manchem Kollegen von heute.

Lesen Sie auch

Alice Ramsey

Die Frau, die Machos am Steuer für immer lächerlich machte

Anzeige

Was sie dann hinter den dicken Mauern, in denen heute Luxus-Wohnungen untergebracht sind, vorfand, war alles andere als erquicklich. Bly stellte fest: Bei einigen Patientinnen bestand die mentale Krankheit lediglich darin, kein Englisch zu sprechen. Ärzte und sonstiges Personal quälten sie ohne jeden Anlass, auf einer Sprachschule wären sie besser aufgehoben gewesen. Und diejenigen, die tatsächlich psychische Probleme hatten, durften bestimmt nicht hoffen, sie hier zu überwinden. Zu schlecht war schon die Pflege, da steckte das Personal bei der Körperwäsche bis zu zehn Frauen in das gleiche eiskalte Wasser.

Ihre Erfahrungen verarbeitete Bly anschließend in ihrem Buch „Zehn Tage in der Psychiatrie“. Und sie bewirkte, dass sich die Dinge in den Einrichtungen für psychisch Kranke verbesserten, plötzlich gab es mehr und besser geschultes Personal. Derartig angesp*rnt, schleuste sie sich danach regelmäßig in andere Institutionen ein.

Doch schon bald stand das nächste große Projekt an, die Weltreise. Sie begann den mehr als 32.800 Kilometer langen Trip am 14. November 1889 in New York und reiste über England, Jules Vernes französischen Wohnort Amiens, Italien, Colombo auf Ceylon, Hongkong, China und Japan nach San Francisco. Und wie Presseleute eben so sind, setzte das Konkurrenzmagazin „Cosmopolitan“ ebenfalls eine Reporterin an, mit dem festen Ziel, Blys Reisezeit zu unterbieten.

Nellie Bly: Die Reporterin, die Psychiatrien zu besseren Orten machte - WELT (3)

Anzeige

Anzeige

Doch Bly behielt die Oberhand, nach 72 Tagen, sechs Stunden, elf Minuten und 14 Sekunden beendete sie den Trip am 25. Januar 1890 in damaliger Rekordzeit. Dass sie das zu einem Vorbild für viele Frauen machte, dürfte einleuchten. Die Journalistin war der wandelnde Beweis, wie weit man es als Mädchen aus der Mittelklasse bringen konnte – eine Inspiration für viele Frauen, nun ihrerseits selbst mehr an sich zu glauben und zu wagen.

Kritiker gab es trotzdem. Sie befanden, manche der Berichte atmeten zu sehr den Geist des Hochmuts der Weißen. Doch insgesamt blieb auch diese Unternehmung ein großer Erfolg. Allerdings gab es bald Querelen mit dem Magazin – die Autorin fand, dass Pulitzer ihr zu wenig Aufmerksamkeit für ihre Wundertour zukommen ließ. So trennten sich ihre Wege bald.

Nellie Bly heiratete einen reichen Industriellen, der 40 Jahre älter war als sie. Sie stürzte sich ins Geschäftsleben und bewies auch hier Geschick. Der Tod ereilte sie 1922 in New York im Alter von 57 Jahren. Ihr Name hat bis heute aus besten Gründen überdauert. Noch immer dient sie vielen Frauen als Inspiration – und auch Journalisten, ganz unabhängig von ihrem Geschlecht.

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Nellie Bly: Die Reporterin, die Psychiatrien zu besseren Orten machte - WELT (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Dr. Pierre Goyette

Last Updated:

Views: 6696

Rating: 5 / 5 (70 voted)

Reviews: 85% of readers found this page helpful

Author information

Name: Dr. Pierre Goyette

Birthday: 1998-01-29

Address: Apt. 611 3357 Yong Plain, West Audra, IL 70053

Phone: +5819954278378

Job: Construction Director

Hobby: Embroidery, Creative writing, Shopping, Driving, Stand-up comedy, Coffee roasting, Scrapbooking

Introduction: My name is Dr. Pierre Goyette, I am a enchanting, powerful, jolly, rich, graceful, colorful, zany person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.